Katastrophe am Kap Sounion

Verfasst von Urs Heßling

Westlich des Kap Sounion liegt die kleine Insel Gaidhouroniso mit ihrem 250 m hohen Bergkegel, rechts im Bild. An ihrer felsigen Südostküste, vom berühmten Poseidontempel aus gut zu sehen, spielte sich im Februar 1944 die wohl größte Schiffahrtskatastrophe im Mittelmeer ab.

Prolog

Die Kapitulation der deutschen und italienischen Truppen in Nordafrika im Mai 1943 und die folgende Invasion der Alliierten auf Sizilien im Juli sind klare Zeichen des unumkehrbaren Niedergangs der „Achsenmächte“ im Mittelmeer. Am 8. September 1943 schließt Italien Waffenstillstand mit den Alliierten. Daraufhin kommt es zu Kämpfen zwischen italienischen Truppen und den Deutschen, die diese entwaffnen wollen, um eine mögliche Bedrohung auszuschalten. Auf Kreta, Rhodos und anderen Inseln Griechenlands geraten Tausende von Italienern in Gefangenschaft. Aus Sicht der deutschen Führung stellen sie eine latente Aufstandsgefahr und ein enormes Versorgungsproblem, aber auch ein nutzbares Arbeitspotential dar. Daher wird versucht, sie möglichst schnell auf das Festland zu transportieren. Hitler selbst befiehlt, „alle Sicherheitsbestimmungen hinsichtlich zahlenmäßiger Beschränkungen Mitfahrender hätten zu entfallen, ohne Rücksicht auf Verluste sei der Platz bis zum Äußersten auszunützen“. Der verantwortliche „Admiral Ägäis“, Vizeadmiral Lange, setzt diese Befehle gegen den Widerstand von Heeresgeneralen auf Rhodos und Leros, die ein solches Vorgehen als „völkerrechtswidrig“ bezeichnen, durch.
Schon die ersten Transporte führen zu schweren Verlusten: Am 23. September versenkt der britische Zerstörer Eclipse südlich von Rhodos den italienischen Dampfer Donizetti mit 1576 Gefangenen an Bord, niemand überlebt. Am 19. Oktober versenken britische und US-Flugzeuge nördlich von Souda den Dampfer Sinfra, von 2389 Gefangenen an Bord werden nur 539 gerettet. Im Seegebiet zwischen Kephallenia und dem Festland sinken 2 kleine Frachter auf aus der Luft gelegten Minen oder möglicherweise durch einen U-Boot-Angriff, im Hafen von Korfu ein weiterer bei einem Luftangriff, dabei kommen insgesamt vermutlich etwa 2600 weitere Gefangene, viele von ihnen Angehörige der italienischen Division „Acqui“ und Überlebende des berüchtigten Massakers von Kephallenia, um. Die deutschen Dienststellen kennen also die Gefahren, die mit diesen überladenen Transporten einhergehen.

Seit Anfang 1944 wird die Versorgungslage auf den Inseln wegen der erfolgreichen alliierten Angriffe auf die deutschen Transportschiffe immer kritischer. So werden die Abtransporte wieder aufgenommen. Am 8. Februar versenkt das britische Unterseeboot Sportsman den Dampfer Petrella nördlich von Souda mit 3173 italienischen Gefangenen an Bord, von denen 2670 umkommen, auch weil die Wachmannschaften, wie schon auf der Sinfra, die Zugänge zu den Gefangenenräumen nicht öffnen und, als diese ausbrechen, sie mit Waffengewalt daran hindern, die Boote zu besetzen.

Tragödie


Die Oria

In dieser Lage beginnt die Fahrt des Dampfers Oria (2127 BRT) von Rhodos nach Piräus. Am 11. 2. läuft die Oria im Geleit der 3 deutschen, ehemals italienischen Torpedobooten TA 16, TA 17 und TA 19 (→ weitere Infos) unter dem Kommando von FKpt. Dominik von Rhodos aus. Nach unterschiedlichen Quellenangaben sind ca. 4160 - 4190 Gefangene an Bord.
Am Morgen des 12. 2. kommt ein Südweststurm mit Stärke 8-9 auf; das Geleit marschiert jedoch, obwohl die veralteten Torpedoboote an den Rand einer Seenotlage kommen, nach Westen in Richtung Piräus weiter, weil diese Wetterlage die gefürchteten Angriffe der alliierten Flugzeuge und Unterseeboote praktisch unmöglich macht.
Am Nachmittag des 12. 2. passieren die Schiffe die Meerenge zwischen den Inseln Serifos und Kythnos und können beim Leuchtfeuer Kythnos eine Standortbestimmung machen. Nach Sichten des Kaps Sounion gegen 18.00 Uhr drehen die Geleitboote auf Westkurs, um vom Sturm nicht in gefährliche Nähe zur Küste gedrückt zu werden.
Der Kapitän der Oria läuft mit seinem Schiff jedoch trotz gegenteiliger, wiederholter Befehle des Geleitkommandeurs auf kürzestem Weg weiter. So gerät das Schiff im Dunklen gegen 18.45 Uhr an der Südostecke von Gaidhouroniso auf Grund. Da auf den Torpedobooten im Sturm alle Funkgeräte ausgefallen sind, können Hilfsmaßnahmen erst beim Einlaufen der Boote in Piräus, Stunden später, eingeleitet werden. Zu dieser Zeit ist das Schiff bereits auseinandergebrochen und die Teile sind gesunken.
Betreffs der Überlebenden werden in den Akten unterschiedliche Zahlen genannt, die höchste (!) Angabe (der „Seetransportstelle“) nennt 6 Wachmannschaften, 7 Besatzungsmitglieder, darunter den Kapitän, der nun einen Navigationsirrtum zugibt, und 49 (!) gerettete Italiener. Es kommen also mehr als 4100 Menschen beim Untergang der Oria ums Leben.


KTB der Seetransportstelle Ägäis

Epilog

Aus den Akten ist nicht nachvollziehbar, ob der Kapitän zur Verantwortung gezogen wurde. Gegen den Geleitführer, der unter den gegebenen Umständen das Menschenmögliche tat, um das Unglück abzuwenden, wurde ein kriegsgerichtliches Verfahren eingeleitet, er wurde einige Tage später wegen Nervenversagens abgelöst, weitere Angaben waren nicht zu ermitteln.

Nachlese: Die Quellen

Das in den letzten Jahren in 78 Bänden veröffentlichte „Kriegstagebuch der Seekriegsleitung“ erwähnt in Band 54 / Februar 1944 die Fahrt der „Oria“ ausführlich, einschließlich einer Eintragung vom 12. 2. „... passierte 1830 Uhr Kap Sunion“ – 15 Minuten vor dem Unglück !

Die beiden Standardwerke der Nachkriegszeit „Chronik des Seekrieges 1939-1945“ von Professor Jürgen Rohwer, herausgegeben vom Arbeitskreis für Wehrforschung und der Bibliothek für Zeitgeschichte in Tübingen, und „Die deutschen Kriegsschiffe 1815 - 1945“ von Erich Gröner erwähnen die Oria nicht. In dem Buch „Die Verluste der deutschen Handelsflotte im Zweiten Weltkrieg“ ist die Oria als ein Schiff der deutschen Mittelmeer-Reederei zwar mit Angabe der Tonnage aufgeführt, jedoch ohne die ansonsten normale Angabe des Zeitpunkts, Orts und der Umstände des Verlusts.

Zwei Marineoffizieren nahmen es auf sich, die Wahrheit genauer zu beschreiben. Der Historiker Fregattenkapitän a.D. Dr. Gerd Schreiber dokumentiert in seinem Buch „Verraten -Verachtet - Vergessen – Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943-45“ minutiös und nachvollziehbar die völkerrechtswidrige Behandlung dieser Soldaten und dabei auch die Situation und die Befehle, die zur Fahrt der Oria führten.

Der Konteradmiral a. D. der Bundesmarine Carlheinz Vorsteher, der 1943/44 selbst junger Kommandant in der 9. Torpedobootsflottille war, berichtet in seinem Buch „Auf verlorenem Posten“ tagebuchartig und in der nüchternen Sprache eines Seemanns, der dabei war, von 12 Monaten Seekrieg in der Ägäis mit Geleitfahrten, Angriffen alliierter Flugzeuge und Unterseeboote, immer mehr anwachsenden Verlusten bis zum Ende des Kampfes im September 1944, und dabei auch von der schicksalhaften Fahrt des Oria-Geleits.

Insgesamt kamen bei den Transporten etwa dreizehntausend italienische Soldaten um.


Quellen:

  • • Kriegstagebuch der Seekriegsleitung 1939-1945, Teil A, Band 54 – Februar 1944
       herausgegeben im Auftrag des MGFA von Werner Rahn und Gerhard Schreiber, Verlag E.S. Mittler & Sohn
  • • Schreiber, Gerhard: „Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943 bis 1945“
       R. Oldenbourg Verlag, München, 1990, im Rahmen von: Beiträge zur Militärgeschichte, Hrsg. MGFA, Band 28
  • • Vorsteher, Carl-Heinz, und Birnbaum, Friedrich-Karl: „Auf verlorenem Posten. Die Geschichte der 9. Torpedobootflottillen“.
       Motorbuchverlag, Stuttgart, 1987
  • • Privatsammlung Herr Theodor Dorgeist, Telgte (Foto und Lebenslauf der ORIA sowie Auszüge aus KTB Seetransportstelle Ägäis)

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