Zwölf Sekunden Zeit

Ein Bericht von Herbert Fröhlich. Vorwort von M.H.

Vorwort

Dieser Text wurde 1986 von einem ehemaligen Funker des Hilfskreuzers „Atlantis“ der Kriegsmarine verfasst und der Lehrsammlung für verwendungsbezogene Ausbildung bei der ehemaligen Marinefernmeldeschule Flensburg- Mürwik (später bei der Marineoperationsschule Bremerhaven) überlassen.

Die „Atlantis“ war das 1937 beim Bremer Vulkan vom Stapel gelaufene Handelsschiff „Goldenfels“ der Deutschen Dampfschiffahrtsgesellschaft Hansa (DDG Hansa). Als harmloser Frachter getarnt führte sie Handelskrieg gegen die Schifffahrt der Alliierten. Bei der Seekriegsleitung wurde die „Atlantis“ als „Handelstörkreuzer 2“ bzw. „Schiff 16“ geführt. Bei der Royal Navy wurde sie als „Raider C“ bekannt. Am 22. November wurde die „Atlantis“ bei der Versorgung des deutschen U-Bootes „U 126“ etwa 500 Seemeilen südöstlich der brasilianischen Sankt-Peter-und-Sankt-Paul-Felsen vom britischen Schweren Kreuzer HMS „Devonshire“ gestellt und unter Feuer genommen. Gegenwehr war unmöglich, da der britische Kreuzer außerhalb der Reichweite der eigenen Geschütze blieb. Die Besatzung versenkte ihren schwer beschädigten Hilfskreuzer selbst. Acht Mann fielen, 305 wurden von „U 126“ aufgenommen und teils in Rettungsbooten hinter dem U-Boot geschleppt. Die Überlebenden wurden zwei Tage später an den Versorger „Python“ über- geben, der wiederum am 1. Dezember 1941 vom britischen Schweren Kreuzer HMS „Dorsetshire“ entdeckt und darauf von der eigenen Besatzung versenkt wurde. Weitere drei „Atlantis“-Fahrer kamen um. Die Überlebenden beider Schiffe wurden von deutschen und italienischen U-Booten aufgenommen und in die Heimat gebracht.

Die Kaperfahrt der „Atlantis“ dauerte insgesamt 622 Tage und war die längste Einsatzfahrt aller deutschen Hilfskreuzer in beiden Weltkriegen. Ihr fielen 22 gegnerische Handelsschiffe zum Opfer.


M.H., Februar 2018


Eine Episode aus dem zweiten Weltkrieg während der Operationen des Hilfskreuzers „Atlantis“ in überseeischen Gewässern.

Es ist bekannt, dass die elektromagnetischen Wellen eines Rundfunk- oder Telegrafiesenders eingepeilt und somit zur Standortbestimmung des Senders bestimmt werden können. Angesichts dieser Erkenntnis ist der Gebrauch des Senders eines in See stehenden Schiffes in Kriegszeiten immer mit der Gefahr verbunden, dass eine Funkspruchabgabe zur Bloßstellung des Schiffstandortes führt. Dies bedeutete für uns, dass die einzige Verbindungsmöglichkeit mit der Heimat, die Funktelegrafie, nur ein- geschränkt benutzt werden durfte. Allerdings wurde während der ersten Monate der Unternehmung – „Atlantis“ war Ende März 1940 aus Wilhelmshaven ausgelaufen – die Einpeilungsgefahr nicht allzu hoch eingeschätzt; denn es war bisher noch in keiner Weise erwiesen, dass Peilungen auf kurzen Wellen über sehr große Entfernungen möglich sein sollten.

„Atlantis“ operierte in weiten Seeräumen. Unsere Funkmeldungen an die Heimat wurden wechselnd auf verschieden Frequenzen abgegeben. Zudem lagen unserer Schiffsführung weder Beobachtungsergebnisse noch anderweitige Erkenntnisse vor, die darauf schließen ließen, dass der Gegner an den Küsten des Südatlantiks oder Indischen Ozeans ein Kurzwellenpeilnetz aufgebaut hätte. Diese Beobachtungen rechtfertigten eine nicht allzu scharfe Drosselung des Nachrichtenaustauschs mit der Heimat. Und man konnte seinerzeit weder dem Kommandanten der „Atlantis“ noch dem funktechnischem Personal den Vorwurf einer leichtfertigen Handlungsweise unterschieben.


Hilfskreuzer Atlantis
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Die Belehrung kam früh genug und zwar dadurch, dass bekannt wurde, dass „Atlantis“ bei der Abgabe eines Funkspruchs im Indischen Ozean über eine Entfernung von rund 1500 Seemeilen innerhalb von 15 Sekunden mit einer Genauigkeit von weniger als 30 Seemeilen eingepeilt worden ist. Es war ein Beobachtungsergebnis des deutschen Aufklärungsdienstes, das „Atlantis“ übermittelt wurde. Das gemahnte zur Vorsicht.

Der Gebrauch des Senders wurde von nun an nur noch freigegeben, wenn äußerster Notfall vorlag oder bei Wechsel eines Operationsgebiets, da dann eine Einpeilung und Standortpreisgabe nicht mehr gefährlich werden konnte. Selbst aber dann noch wurde die Peilgefahr weitgehend ausgeschaltet, indem wir durch Anwendung des Kurzsignalverfahrens die Gesamtlänge des abzugebenden Funksignals auf eine Abgabezeit von nur 12 bis 15 Sekunden herabsetzten. Es war nach den bisherigen Erfahrungen anzunehmen, dass der Gegner auch bei bestem technischem und organisatorischem Ausbau seines Peilnetzes eine exakte Peilung in dieser kurzen Zeit nicht mehr durchführen konnte. Unter Beachtung dieser Tatsachen musste die Abgabe eines Funksignals sorgfältig vorbereitet werden. Wir mussten ohne weitere Versuche zur Verbindungsaufnahme auf Anhieb mit unserem 120 Watt DEBEG-Sender zur Heimat durchkommen, wenn wir unseren Standort nicht preisgeben wollten.

Für die Nachrichtenverbindung zwischen Hilfskreuzer und Heimat war ein umfangreiches Programm aufgestellt worden. Drei Kurzwellensender an verschiedenen Standorten in der Heimat sendeten jeweils auf drei verschiedenen Frequenzen in einem bestimmten Zeitprogramm fortlaufend Tag und Nacht durch Abgabe von ihrem Namen und Verbindungszeichen und Funksprüchen. Hierbei wurde das Blind- oder Täuschungsverfahren angewandt. Die Funksprüche enthielten, wenn notwendig, direkte Meldungen, Weisungen oder Aufklärungsmeldungen an „Atlantis“. Zum Ausfüllen der Programmzeit wurden, kenntlich gemacht durch die erste verschlüsselte Funkgruppe, leere Füllbuchstaben oder Texte aus Wehrmachtsberichten verwendet, die für „Atlantis“ wohl interessant, nicht aber wichtig waren. Die Frequenzen lagen etwa als Tagfrequenz im 20- Meter-Band, bei 50 Metern als Dämmerungs- und bei 80 Metern als Nachtfrequenz.

Im Funkraum der „Atlantis“ wurden vierstündlich exakt auf einer umfangreichen Liste Lautstärke, Empfangsgüte, Störer oder atmosphärische Störungen und die Frequenzen der Sender und die jeweiligen Uhrzeiten in Orts- und Heimatangabe sowie der derzeitige Schiffsstandort registriert. So hatten wir jederzeit eine Übersicht über die beste Zeit und Lautstärke der drei Sender. Nach den Erfahrungen konnten wir davon ausgehen, dass zu dem zuletzt am besten empfangenen Sender auch der Sender der „Atlantis“ durchkommen würde.

„Atlantis“ befand sich im Südpazifik. Der Kommandant, Kapitän zur See Bernhard Rogge, wollte das Seegebiet wieder verlassen und in den Südatlantik wechseln und diese Absicht mit einem Funksignal dem Oberkommando der Kriegsmarine (OKM) bzw. der Seekriegsleitung (SKL) mitteilen. Er fragte daher den Zweiten Funktechnikoffizier (II. FTO), wann wohl die beste Zeit zur Abgabe wäre. Nach Durchsicht der Lautstärkenliste konnte der II. FTO dem Kommandanten melden, dass die beste Zeit heute Abend um 19:45 Uhr Ortszeit sei. Zugleich bat der II. FTO, ob um diese Zeit etwa von 19 bis 20 Uhr der Kurs des Schiffes so gelegt werden könnte, dass das Heck in Längsrichtung des Schiffes genau zur Heimat zeigen würde. Auf die etwas erstaunte Frage des Kommandanten erklärte der II. FTO, dass die Sendeantenne des Kurzwellensenders in Mittschiffsrichtung vom Hauptmast zum Schornsteinmast als L-Antenne aufgespannt ist. Eine L-Antenne hat ihre beste Energieabstrahlung in der Richtung des offenen Winkels mit dem langen L-Schenkel und wenn dieser zur Heimat zeigen würde, könnten wir mit Glück auf Anhieb durchkommen. Und der Kommandant entsprach der Bitte des II. FTO und ließ unser Schiff mit entgegengesetztem Heimatkurs fahren.

Den ganzen Nachmittag war Zeit genug, das Signal und die Anlage vorzubereiten. Antenne und Kontakte wurden überprüft. Eine Stunde vor der Abgabe des Signals wurde der Sender eingeschaltet, damit er auf Betriebstemperatur und Frequenzkonstanz kommt. Der beste Wachleiter wird an den Empfänger gesetzt, das fertige Kurzsignal, zur Sicherheit mehrmals entschlüsselt, liegt abgabebereit vor ihm. Alle paar Augenblicke wischt er mit der rechten Hand über seine Hose, stellt den Hub und die Federspannung der Morsetaste ein wenig nach. Die übliche Spannung vor dem großen Moment. Der II. FTO hat den Steuersender nach der Eichkurve auf die Frequenz eingestellt. Während der letzten Programmzeit wird der Sender durch das Einpfeif- oder Schwebungslückenverfahren auf die Frequenz des Heimatsenders durchgestimmt. Nun bleibt nur noch der Antennenkreis, der jedoch nur mit voller Energie durchgestimmt werden kann.


Es ist 19:44 Uhr. Der Heimatsender hat seinen letzten Funkspruch abgegeben. Der Wachleiter rückt sich Taste und Funkspruchformular zurecht. Nochmals werden die Finger an der Hose getrocknet. Der II. FTO hat die Hand am Betriebsschalter und Abstimmknopf des Senders, betrachtet Skala und Instrument. Ihm scheint, als hätte er eben seine Hände aus dem Waschbecken gezogen. Aus den Kopfhörermuscheln rinnt ihm der Schweiß ums Kinn und tropft dann herab. Er nimmt kaum Notiz davon, dass sich der Kommandant seit geraumer Zeit im Funkraum aufhält.

19:45 Uhr: Der Schalter knackt: „Obermaat, geben Sie jetzt langsam ein Viktor!“ Der Morsebuchstabe wird weltweit allgemein als Abstimmungszeichen benutzt – dit dit dit daaa. Schnell und gleichmäßig variiert der II. FTO den Abstimmknopf nach rechts und links, um so ein Zeigermaximum des Antenneninstruments zu finden. „Gut, das zweite V.“ Das eben gefundene Maximum wird zur Spitze ausgeregelt. „Fertig, Signal raus“, spricht der II. FTO zum Wachleiter. Drei Sekunden dauerte die Abstimmung. Bleiben noch neun für die Signalabgabe. Stille im Funkraum. Nur das Knacken der Taste und das Piepsen der Morsezeichen im Empfänger bzw. in den Kopfhörern ist zu vernehmen.

„Signal ist abgegeben“, meldet der Wachleiter. Bevor er seine Eintragungen im Funktagebuch vornimmt, trocknet er sich wieder seine Hände ab. Vier und eine halbe Minute müssen wir noch warten, ehe wir Gewissheit haben, ob unser Signal durchgekommen ist. Der II. FTO schüttet das Schweißwasser aus seinen Kopfhörermuscheln. Langsam schleichen die Minuten, es wird kaum gesprochen, auch der anwesende Kommandant räuspert sich nicht. Es ist 19:49 Uhr. Die Kopfhörer werden wieder aufgesetzt. Stille. Pünktlich 19:50 Uhr beginnt der Heimatsender mit seiner Programmzeit: „DAN, DAN ...“ (jede Programmzeit wird normal mit dreimal Namensgebung eingeleitet).

„Er hat, er hat’s erhalten“, rufen fast alle gleichzeitig in freudiger Entspannung. Der II. FTO vergisst ganz und gar, dass der Kommandant noch hinter ihm steht und eigentlich „Befehl ausgeführt“ erhalten müsste. Aber unser Kommandant hat allzu viel Verständnis für solche Situationen. Er hat ja selbst in den letzten 15 Minuten die Ausführung seines Befehls miterlebt. Auch er strahlt übers ganze Gesicht und freut sich mit uns über den Erfolg. Vom Funkraum aus gab er telefonisch den Befehl an die Brücke: „Alten Kurs 160° steuern!“


Diese Story hat sich tatsächlich im Funkraum des Hilfskreuzers „Atlantis“ etwa Mitte September 1941 im südlichen Pazifik abgespielt. Alte Funkhasen werden beim Lesen dieser Zeilen schmunzeln und an eigene Erlebnisse in diesen Zeiten zurückdenken. Es wird uns aber auch heute bewusst, wie groß der Abstand in diesen 45 Jahren in der Funktechnik geworden ist. Was heute durch extrem hochentwickelte Empfangstechnik spielend leicht vollbracht wird, mussten damals eine Vielzahl gut ausgebildeter Funkbeobachter an ihren Empfängern in der Heimat herausholen. In ununterbrochener Wache, Tag und Nacht, wochen- oft monatelang ohne ein Ergebnis, mussten sie horchen und suchen auf unseren Frequenzen, ob nicht doch einmal ein Piepser kommt. Oft wird man uns schon aufgegeben haben, wenn wir nach Monaten erst wieder die Taste für einige Sekunden drückten. Und gerade diesen Moment durften sie nicht überhören. Auch denen ein Lob für ihr Ausharren, uns zuliebe, die wir weit draußen herumkrebsten.